Für die Entstehung der Magersucht nimmt man heute an, dass folgende Fakjtoren zusammenwirken:

  • eine erbliche Disposition,
  • gesellschaftliche Faktoren, zu denen neben dem Schlankheitsideal auch eine veränderte Rollenerwartung zählt,
  • individuelle Faktoren, wie ein Mangel an Selbstwertgefühl sowie
  • bestimmte familiäre Faktoren.

Die Krankheit tritt bei Frauen in westlichen Gesellschaften gehäuft auf.

Die Zwillingsforschung hat eine familiäre Häufung der Erkrankung nachgewiesen. Bislang konnten noch keine Gene genau identifiziert werden, mit welchen eindeutig eine entsprechende Disposition einhergeht. Die Forschung konzentriert sich zurzeit besonders auf Gene, die im Zusammenhang mit einem leicht störbaren Neurotransmitter-System von Serotonin stehen. Neuere Untersuchungen lokalisieren entsprechende Mutationen des Gens OPRD1 und in der Nähe des HTR1D-Gens.[6]

Ausschlaggebend scheinen die genannten individuellen und Umweltfaktoren zu sein: Allgemein sind dies Erfahrungen, die die überwiegend weiblichen Patienten schon früh besonders auf ihr Aussehen und Gewicht sensibilisieren. Häufig lassen kritische Kommentare von Familie und Freunden über das Essverhalten, Gewicht etc. in der Vorgeschichte nachweisen. In den westlichen Industrienationen herrscht darüber hinaus auch ein kultureller Druck auf Frauen, schlank zu sein. Dieses Schönheitsideal wird durch die Massenmedien transportiert. Schlankheit und gutes Aussehen wird vor allem in der Werbung häufig mit beruflichem und sozialem Erfolg verknüpft. Unter anderem werden Diäten als Mittel zum Erreichen dieses Ideals angepriesen. Die Krankheit beginnt häufig im Rahmen einer Diät und wird durch die Anerkennung und Beachtung, welche die Betroffene (vielleicht erst) durch ihren schlanken Körper bzw. ihren Gewichtsverlust erhält, verstärkt.

Sehr zentral scheinen ungünstige Voraussetzungen in den Herkunftsfamilien („adverse parenting“) für die Entwicklung einer Anorexie zu sein. Im Mittelpunkt steht hierbei vor allem eine geringe emotionale Unterstützung, ein geringer Kontakt, emotionale Kälte, geringe oder nur bedingte Zuneigung und hohe Erwartungen (Vermaschung) der Eltern. Aus systemisch-familientherapeutischer Sicht herrscht in Familien mit an Anorexie Erkrankten ein großes Harmoniestreben der Familienmitglieder untereinander, eine Auseinandersetzung mit Konflikten und negativen Gefühlen (Wut, Zorn, Unsicherheit, Ängste) findet nicht statt. Die Mütter magersüchtiger Patienten sind häufig übermäßig ängstlich und wenig selbstbewusst.

Auch schwere psychische Traumatisierungen, wie z. B. sexueller Missbrauch oder Misshandlung sind in der Geschichte von Anorexiepatienten zu finden.

Ein Mangel an Selbstwertgefühl, ein geringes Selbstbewusstsein und Perfektionismus sind Persönlichkeitszüge, die vor Ausbruch der Erkrankung bestehen.

Die Annahme, dass all diese Faktoren zusammenwirken, wird als „psychobiologisch-soziales Modell“ bezeichnet.[2]

Die meisten Therapeuten nehmen zur Zeit an, dass der Hauptgrund für Magersucht in der Familie zu suchen ist.[7] In den meisten Fällen handelt es sich um eine unauffällige bürgerliche Familie, die sich selbst gern als absolut „intakt“ darstellt; die Meinung Außenstehender hat – insbesondere in Bezug auf den Patienten – höchste Priorität. Sind Jugendliche erkrankt, kann oft eine hohe Leistungsanforderung von den Eltern an den jungen Menschen festgestellt werden. Sollte dieses Bemühen enttäuscht werden, wird dies dann häufig nicht mit offensichtlichen Strafen geahndet, sondern mit dem Vorwurf an den Jugendlichen, Vertrauen enttäuscht zu haben. Das Bild der „eiserne[n] Faust im seidenen Handschuh“[8] vermittelt dies eindrucksvoll.

Beachtet wird zudem die Vermaschung.[9] Gemeint ist damit die Inbesitznahme des Lebens des Patienten durch die Eltern sowie das Fehlen jeglicher Privatsphäre. Natürlich gibt es trotzdem nicht die anorektische Familie. Auch konnte in den Biografien Essgestörter überdurchschnittlich häufig sexueller Missbrauch gefunden werden, allerdings überwiegend bei der Bulimia nervosa. Es ist nicht eindeutig geklärt, ob dies tatsächlich ein ätiologisches Merkmal ist.[10]

Extremer Gewichtsverlust kann auch Begleiterscheinung von Depressionen oder Ausdruck von selbstverletzendem Verhalten sein, oder aber selbst von Depressionen oder Selbstverletzungen begleitet sein. Viele Menschen mit Anorexia nervosa neigen zu zwanghaftem Verhalten bzw. Perfektionismus in allen Lebensbereichen.

Für die Patientin ist die Magersucht in erster Linie eine Abwehr von Fremdbestimmung. Die Kontrolle über den eigenen Körper (z. B. durch Kalorien-Zählen) ist eine Form der Ohnmachtsbewältigung im Prozess der Adoleszenz. Magersucht ist fast immer nur ein Symptom eines tiefer liegenden psychischen (und sozialen) Problems, das behandelt werden muss. Eine Symptomtherapie (wie z. B. mit Pharmazeutika) allein ist nur selten ausreichend. So ist das Schlankwerden oft nur zu Beginn der Krankheit das zentrale Motiv. Erkrankte mit jahrelangem Krankheitsverlauf erleben das Abnehmen häufig als Sucht.

Aus der kognitiv-verhaltenstheoretischen Sichtweise erscheint die Angst vor dem Dickwerden und die gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers (Störung des „Körperschemas“) als motivierenden Faktor. Hier spielt sowohl die Kritik von Gleichaltrigen als auch der Eltern sowie das von den Medien transportierte Schlankheitsideal eine große Rolle. Die gezielte Gewichtsabnahme reduziert die Angst und macht so das Abnehmen zu einem wirkungsvollen Verstärker.[10]

Nach der psychoanalytischen Theorie ist die Hauptursache von Essstörungen eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung. Ein zentraler Konflikt ist das Streben nach Autonomie, was zu einer Loslösung einer als stark erlebten Abhängigkeit von der Mutter und deren Kontrolle führen soll („Abhängigkeits-Autonomiekonflikt“). Anorektische Personen versuchen aber auch, durch die Kontrolle über ihr Gewicht ihren Selbstwert zu stabilisieren („Selbstwertkonflikte“) und durch ihre Schlankheit eine unabhängige Identität zu erlangen („Identitätskonflikt“). Diese Konflikte können psychisch nicht symbolisiert (also nicht „gedacht“) werden. Der Ausdruck der Konflikte und ihre Kommunikation nach außen geschieht über das Körperliche. Dabei soll Selbstkontrolle des eigenen Körpers erreicht werden. Gleichzeitig lehnt die Betreffende eine erwachsene, weibliche Identität und damit auch die weiblichen Formen ab. Dies wird häufig als Abwehr von Triebwünschen verstanden. Die Beherrschung des eigenen Körpers wird zu einem Mittel, Wünsche nach Autonomie, im Gegensatz zu der Angst vor der Trennung von der Mutter, die in der Adoleszenz wiederaufleben. Das aggressive Streben nach Autonomie, das sich häufig in der Adoleszenz zeigt, wird somit über den Körper ausgelebt. Darüber hinaus wird die Unfähigkeit die Konflikte psychisch zu symbolisieren als strukturelle Störung unterschiedlicher Stärke betrachtet